Aus dem Vorwort:

Das ferne Grab

Siebzig Jahre nach dem Krieg sind die Wunden, die er geschlagen hat, zwar vernarbt, aber viele schmerzen noch. Fragen nach Schuld und Vergeltung, nach dem Verhältnis zwischen der heutigen Generation und den Feinden von damals bedürfen immer neuer Beantwortung. Vorurteile, Angst und Misstrauen erweisen sich als langlebig. All dies betrifft in besonderem Maße den Krieg
Deutschlands gegen die ehemalige Sowjetunion und das Verhältnis der Deutschen zu den Russen. Dieser aktuellen Problematik wendet sich Ulrich Völkel in seiner Novelle „Das ferne Grab” zu.
Elisabeth Thal, 82, genannt Li, fliegt mit einer Gruppe deutscher Frauen nach Wolgograd. Es sind ehemalige Kriegerwitwen, deren Männer in der Schlacht von Stalingrad ums Leben kamen. Auf dem deutschen Soldatenfriedhof wollen sie einen späten Abschied nehmen.

Die Novelle ergreift den Leser durch die leise, unaufdringliche Art, in der Ulrich Völkel vom Leben seiner Protagonistin erzählt. Während des Fluges erinnert sich Li an die kurze Ehe mit ihrem Mann Robert, an die von zunehmender Angst erfüllte Zeit des Wartens auf den nächsten Brief von der Front, an die schweren Nachkriegsjahre mit ihren drei Kindern und an ihr Leben in der DDR. Die Erzählung besticht durch die Authentizität, mit der die geistige Physiognomie dieser einfachen, aber lebensklugen Frau nachgezeichnet wird. Erzählende Passagen wechseln immer wieder mit erhalten gebliebenen Briefen ab. So öffnet sich dem Leser ein vielfältiger Einblick in die Gedankenwelt der Elisabeth Thal und ihres Mannes.

Am Anfang der Erzählung erinnert sich Li an einen Lehrer ihres Sohnes. Er hatte den Kindern erklärt, die deutschen Soldaten hätten „sich mitschuldig gemacht am größten Verbrechen der Menschheit”. Sie hatte dagegen gesetzt: „Euer Vater war ein sehr guter Mensch… Papa hat euch geliebt.” An die Stelle dieser einander ausschließenden Urteile tritt im Verlauf der Erzählung allmählich ein viel differenzierteres Bild von jenem deutschen Soldaten Robert Thal, der ein liebender Vater, aber eben auch ein williger Vollstrecker nationalsozialistischer Eroberungspolitik war.

In jüngster Zeit hat eine Reihe deutscher Autoren – von Günther Grass bis Christoph Hein – sich erneut dem Thema des zweiten Weltkrieges zugewandt. Jahrzehnte nach dessen Ende stehen im Mittelpunkt ihrer Werke die Leiden, die der Krieg auch dem deutschen Volk brachte. Auch das Schicksal von Elisabeth Thal zeugt davon. Der Autor beschränkt sich jedoch nicht darauf. An einigen Nebengestalten – so der des Reiseleiters und einiger Frauen aus der Gruppe – macht er mit wenigen, aber klaren Strichen sichtbar, wie unterschiedlich auch heute noch in Deutschland mit der Vergangenheit umgegangen wird. Zugleich wird dabei die verschiedene Denkweise von Ost- und Westdeutschen sichtbar, ohne dass der Autor darüber vorschnelle Urteile fällt. Dass der Krieg Leid über Deutsche wie Russen brachte, wird am Ende sehr eindrucksvoll in dem Bericht der russischen Lehrerin Irina über ihre Großmutter geschildert. Und es ist sehr schön und von großer Symbolkraft, dass Irina Li schließlich zum deutschen Soldatenfriedhof fährt, damit sie dort allein und in Ruhe letzten Abschied nehmen kann, während Irina auf den benachbarten russischen Soldatenfriedhof geht. Das Gedenken an die Toten verbindet die Lebenden.

Dr. Eberhard Günther