Der Gesang der Vögel im Lebensbaum

Der Weimarer Schriftsteller Wolfgang Held legt seine Erinnerungen vor
TLZ 10.07.2014

Schaut auf seine Biografie: der Weimarer Schriftsteller Wolfgang Held. Foto: Sascha Fromm

Schaut auf seine Biografie: der Weimarer Schriftsteller Wolfgang Held. Foto: Sascha Fromm

Weimar. „Mit zunehmendem Alter setzten sich die Erinnerungen wie Vögel in meinen Lebensbaum. Und dann lauschte ich ihrem Gesang. Mir schien, sie erzählten von einem Menschen, den ich irgendwie kannte.“

Der Satz, den der schwerkranke Weimarer Schriftsteller Wolfgang Held seinem Band „Ich erinnere mich“ voranstellt, hat es in sich. Wie blickt man vom Ende her auf sein Leben zurück? Was lässt man gelten, was lieber weg? Und wie gut kennt man sich wirklich? Helds im Weimarer Eckhaus-Verlag erscheinende Erinnerungen werden heute, zwei Tage vor seinem 84. Geburtstag, in der Klassikstadt präsentiert.

Der Gesang der Vögel kann, wenn man wie Wolfgang Held in der Nazizeit aufgewachsen ist, die DDR als große Hoffnung erlebt und in ihr Verantwortung übernommen hat und zuletzt an ihr fast verzweifelt ist, kein harmonischer sein. Herausgeber Ulrich Völkel hat eine Textcollage zusammengestellt – darunter auch Porträts von Weggefährten und Tagebucheintragungen -, die den Autor des Romans „Einer trage des anderen Last“ als einen politisch reflektierenden Menschen zeigen.

Die Kindheitserinnerungen, zum Teil bereits in „Flugfunken“ (2013) veröffentlicht, bilden den stärksten Part. Man erfährt, wie der 1930 Geborene schon in der „Milchzahnzeit“ geprägt wurde, vor allem sozial, aber auch politisch.

Wie in einem Brennglas spiegeln sich die gesellschaftlichen Widersprüche in der Großfamilie: Vater Sozialdemokrat, Onkel Martin deutschnational, Onkel Rudi Jungkommunist. Der Verlobte der Tante SS-Mann. Die diktatorische Großmutter hielt den Laden zusammen, sorgte, dass daheim niemand „aufmuckte“. Freilich konnte sie Rudis Verhaftung nicht verhindern. Dessen nie ganz geklärtes Schicksal zieht sich wie ein roter Faden durch Helds Erinnerungen: 1938 Flucht in die Sowjetunion, von Stalin postwendend an Hitler ausgeliefert. KZ Buchenwald, wo der Schwager Aufseher war. Schließlich Strafbataillon 999, das „Himmelfahrtskommando“ an der Ostfront. Beim Versuch, zur Roten Armee überzulaufen, wurde er vermutlich erschossen.

Im April 1945, als die Amerikaner das Lager befreit haben, läuft der 15-Jährige auf den Ettersberg, weil er hofft, dort etwas über den Onkel zu erfahren. Ein US-Offizier nimmt ihn beiseite und sagt: „Da sind Tränen nicht genug, mein Junge.“

Was für ein Stoff! Wolfgang Held wollte ihn zum Roman seines Lebens verarbeiten, was ihm nicht gelang. Dafür gelang ihm anderes: mehr als ein Dutzend Jugendbücher, erfolgreiche Drehbücher für Film und Fernsehen. Sein Hauptwerk, „Einer trage des anderen Last“, wird von Lothar Warneke verfilmt und gewinnt zwei Silberne Bären. Ab Januar 1989 wird der TV-Mehrteiler „Die gläserne Fackel“ über die Geschichte der Zeiss-Werke gesendet – leider nur als „Torso eines Traums“, wie der Autor sarkastisch im Tagebuch vermerkt. DDR-kritische Szenen wurden gestrichen.

Auffällig: Die Tagebuchauszüge enden im Sommer 1989, als der Verfasser im Journalistenheim am Balaton sitzt und mit dem Chefredakteur einer SED-Bezirkszeitung über den Flüchtlingsstrom in den Westen diskutiert. Am 12. Juli fasst er kurz die „Errungenschaften“ des Sozialismus zusammen, die bald den Bach runtergehen könnten, und fragt sich: „Zurück in die Zeit meiner Kindheit?“

Ratlosigkeit spricht aus den spärlichen Reflexionen aus der Zeit nach der Wende. „Und ich?“ fragt der Autor in Bezug auf die in der DDR weggesperrten Kollegen Walter Janka und Erich Loest. „Was hätte ich wissen müssen oder können, was habe ich unterlassen oder wo habe ich nicht eingegriffen, obwohl ich die Ungerechtigkeit sah?“ Fragen zumindest, doch kaum Antworten.

Die Reisetagebücher – u.a. Syrien, Ägypten, Irak und Spanien – überblättert man, da nur protokollarisch. Im Kapitel „Weggefährten“ porträtiert Held mit Louis Fürnberg und Walther Victor zwei, denen er als Autor viel verdankte. Armin Müller und Harry Thürk sind dabei. Zu Strittmatter gibt es ein hübsches Anekdötchen, und „Ein Auto für Bruno Apitz“ hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Am ehesten überzeugt die Begegnung mit Walter Janka, seinem Defa-Dramaturgen. Das Schicksal des in Ungnade gefallenen Kommunisten bereitet Schwierigkeiten mit der Wahrheit.

10. Juli, 19 Uhr, im Theater „Stellwerk“ Weimar (Eingang neben dem Hauptbahnhof)