„Die Mörder gingen sonntags in die Kirche“

Eva Schloss, eine Freundin der Anne Frank, hat Auschwitz überlebt und hält die Erinnerung wach

Frau Schloss, Sie sind zum ersten Mal in Weimar. WerdenSie neben den Klassik-Stätten auch die Gedenkstätte KZ Bu­chenwald besuchen?
Nein. Dafür haben wir leider keine Zeit.

Gibt es nur Zeitgründe?
Ja. Ich bin doch auf Einladung eines japanischen Fernsehteams hier.

In der Geschichte Weimars liegen Hochkultur und Barbarei ganz nah beieinander. Können Sie das verstehen?
Nein.

Sie schreiben von SS-Leuten in Auschwitz, die tagsüber Juden ins Gas geschickt und am Abend ihren Kindern lustige, Geschichten vorgelesen haben.
Sie gingen auch sonntags zum Gottesdienst in die Kirche. Aber wie kann man denn verstehen, dass ein Erwachsener Mensch einem Kind den Kopf eintritt?

Dafür haben Sie bis heute kei­ne Erklärung?
Nein.

Was wäre geschehen, wenn Ihre Mutter Ihnen an der Ram­pe von Auschwitz nicht im letzten Moment den Pelzman­tel umgehängt und den Filzhut aufgesetzt hätte, was Sie älter erscheinen ließ?
Ich wäre nicht am Leben geblie­ben. Ganz sicher nicht.

Sie hatten großes Glück?
Ja. Auch, dass wir dann unter Zehntausenden Gefangenen die Minni, meine Cousine, gefun­den haben …

Die Krankenschwester?
Ja. Das ist doch auch ein unglaublicher Zufall! Das Lager war riesengroß. Ohne die Minni, die uns mit Medikamenten ver­sorgt hat, wäre meine Mutter ganz sicher vergast worden. Ich hätt’s auch nicht überlebt.

Zeitungsartikel Eva Schloss

Anne Frank, mit der Sie als Kind in Amsterdam gespielt haben, kennt heute fast jeder. Letztlich sprechen Sie aber für viele, deren Schicksale un­bekannt geblieben sind.
Es gäbe noch so viele Schicksale zu erzählen.

Wie wichtig ist für Sie das Erzählen? Erinnern heißt doch auch, die schmerzlichen Erlebnisse immer wieder neu zu durchleiden.
Anfangs war das für mich sehr, sehr schwierig. Aber jetzt mache ich es ja schon über 20 Jahre. Ich werde im Weimarer Schloss eine Stelle aus dem Buch vor­lesen, wo es um meinen Bruder geht. Ich habe ein bisschen geübt, denn auf Deutsch lesen ist mir nicht so geläufig. Dabei musste ich immer wieder weinen. Das eigene Leid spüre ich nicht mehr so. Aber der Verlust meines Vaters und meines Bruders… -,Schauen Sie, das sind Fotografien von den Bildern, die mein Bruder gemalt hat. So ein unglaublich talentierter junger Mann! Er hat gemalt, er hat Mu­sik gemacht und er hat wunder­volle Gedichte geschrieben. Er hat sechs Sprachen gelernt wäh­rend der Zeit, in der er unterge­taucht war.

Beide, Ihr Bruder und Ihr Va­ter, haben den Todesmarsch von Auschwitz nach Maut­hausen überlebt und sind kurz vor der Befreiung des ‚Lagers gestorben.
Das war das Ärgste, dass sie es fast überlebt hätten.

Denken Sie noch oft an Ihren Bruder?
Ich brauche mir nur seine Bilder anzuschauen, dann sehe ich ihn vor mir. Diese Fantasie, die er ge­habt hat! Er hat auch Angst vorm Sterben gehabt. Ich denke oft, wie ist er umgekommen? Hat er gelitten im letzten Mo­ment, wo er wusste, dass er ster­ben wird? Das spukt mir immer im Kopf herum.

Wie ist Ihre Mutter mit dem Familienschicksal umgegan­gen?
Meine Mutter hat nie wieder einen Fuß auf österreichischen Boden gesetzt. Dort hatte man uns rausgeworfen. Falls mein Vater und mein Bruder überlebt hätten, wären wir vielleicht wie­der zurückgegangen. Wissen Sie, nach der Befreiung vom Fa­schismus haben die Leute ge­sagt: Nie wieder Auschwitz! Und ich dachte, sie hätten aus der Geschichte gelernt. Aber ha­ben sie wirklich gelernt?

Sie wollen sagen, dass es 70 Jahre nach Kriegsende nötiger denn je ist, über Auschwitz und die Verbrechen der Nationalsozialisten zu sprechen?
Nicht nur über Auschwitz. Auch über Krieg, Flucht und Emigra­tion. Es ist doch schon wieder so, dass man keine Flüchtlinge aufnehmen will. Denn man hat ja keinen Platz. Und es ist so schwierig. Und es sind zu viele … Wenn die Juden in den 30er Jahren von anderen Ländern, die nicht unter deutscher Besatzung standen, aufgenommen worden wären, hätte es den Holocaust womöglich nicht gegeben. Deswegen war ich nach dem Krieg auch so verbittert – nicht nur gegen Deutschland, sondern gegenüber der ganzen Welt.

Hat es deshalb so lange gedauert, bis Sie Ihre Geschichte er­zählen konnten?
Anfangs wollte ich ja darüber sprechen, aber die Welt wollte es nicht wissen. Man hat gesagt, es muss weitergehen, und das, was war, müssen wir vergessen.

Aber Sie haben sicher auch selbst Zeit gebraucht, um Ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
Natürlich. Als mich die Leute später, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, gefragt haben: Wo warst du während des Krie­ges? Was hast du erlebt? – da war ich nicht mehr bereit, darü­ber zu spreche

Viele und vor allem junge Leu­te interessieren sich aber heu­te für das Schicksal der Juden. Vor dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam bilden sich jeden Tag Schlangen.
Das ist unglaublich. Die haben jetzt über eine Million Besucher. Wenn ich diese Zahl höre, muss ich an die anderthalb Millionen jüdischen Kinder denken, die von den Nazis ermordet worden sind. Anderthalb Millionen ‚ kann man sich nicht vorstellen. Aber wenn man die Geschichte eines Kindes hört, das sich zu­dem sprachlich gut ausdrücken konnte … Aber ich sage auch im­mer: Anne Franks Tagebuch ist kein Holocaust-Buch, weil darü­ber letztlich nur überlebende schreiben konnten.

Wie reagieren die 15-jährigen Schüler, wenn Sie ihnen er­zählen, dass Sie mit fünfzehn in ein Vernichtungslager ver­schleppt wurden?
Manche fühlen sich schuldig . Dann sage ich, ihr könnt nichts dafür, ihr wart doch damals noch nicht geboren. Aber sie ha­ben ein Schuldgefühl für die Großeltern oder Urgroßeltern und wollen etwas wiedergutma­chen. Aber solche Gefühle, das sage ich ganz offen, sind in die­sem Falle nicht gut. Wenn man sich schuldig fühlt, entstehen auch unterschwellig neue Feind­gefühle gegen die Juden. Nein, das ist jetzt 70, 75 Jahre her, da muss sich niemand mehr schuldig fühlen.

Reagieren die Schüler auf Ihre Lesung in Deutschland anders als in den USA oder in Israel?
In Amerika sind die Menschen emotional offener. Aber überall sind sie sehr interessiert. Ich er­lebe in Deutschland eine große Offenheit gegenüber den Flücht­lingen aus Afghanistan und Sy­rien. Ich bewundere Angela Merkel, weil sie dazu steht, auch wenn Teile der deutschen Bevöl­kerung nicht damit einverstan­den sind. Sie verfolgt das Prin­zip: Man muss Menschen hel­fen, wenn sie in Not sind. Das müsste die ganze Welt verstehen, leider tut diese das nicht.

Was könnte sie tun?
Ich war gerade in Amerika und habe den Menschen dort gesagt, dass das , Flüchtlingsproblem kein europäisches Problem ist. Es ist ein globales Problem, an dem die Amerikaner durch ihre Kriege in Afghanistan·und dem Irak eine große Mitschuld tra­gen. Doch die amerikanische Regierung will nichts davon wis­sen. Sie könnte Schiffe und Flug­zeuge schicken, um Flüchtlinge aufzunehmen. Doch sie nimmt keinen einzigen auf.