,,Ich wollte vergessen“

Als Mädchen überlebte Eva Schloss die Hölle von Auschwitz-Birkenau. Nach dem Krieg heiratete ihre Mutter den Vater von Anne Frank

Eva Schloss war 15 Jahre alt, als sie am 27. Januar 1945 in Auschwitz­Birkenau befreit wurde.
Heute und morgen wird sie in der Erfurter Gedenkstätte „Topf & Söhne“ zu Gast sein.
Vorab erzählt sie der Thüringer Allgemeinen von ihren Erinnerungen.

Diese Stille. Plötzlich waren die Deutschen weg.
Die Tage und Nächte zuvor waren angefüllt von ihrem Brüllen. Raustreten, bereit zum Abmarsch, dann wieder zurück in die Krankenbaracke. Über dem Lager kreisten die Flugzeuge der Alliierten. Auf der Pritsche lag die kranke Mutter, zu schwach zum Laufen. Dann kam der Morgen, an dem sie alle weg waren. Das Tor war auf, sie hätte gehen können. Aber wohin?

Zeitungsartikel Eva Schloss

Die noch laufen konnten, durchstreiften die Baracken auf der Suche nach Brot und Kleidung. Irgendwann kamen ein paar Deutsche zurück, nahmen ihre Mutter und andere Häftlinge mit. Unterwegs ließ sich die Mutter in den Schnee fallen, stellte sich tot, schleppte sich zurück in das Lager.
So erlebte sie die Befreiung. Es war vorbei, aber das konnte sie damals so noch nicht fühlen. Die Menschen starben weiter. Sie gehörte zu den Stärksten, jeden Morgen trugen sie die Toten der Nacht heraus und stapelten sie hinter der Krankenbaracke. Das gehört, sagt sie heute, zu den schmerzhaftesten Erinnerungen an Auschwitz-Birkenau. Sie war 15 Jahre alt.
Nach zehn Tagen liefen sie in das Lager nach Auschwitz. Dort trafen sie Otto Frank wieder, den Vater der Schwestern Anne und Margot, sie kannten sich von Amsterdam.
Der Mann, der ihr Stiefvater werden sollte. Aber das ahnten sie damals noch nicht. Damals hofften sie noch, dass der Bruder und der Vater überlebt haben. Von den Todesmärschen wussten sie noch nichts.
Anne Frank war nur einen Monat jünger als sie. Sie teilten in Amsterdam einen Freundeskreis und das Schicksal von jüdischen Flüchtlingen. Ihre Wohnungen am Merwedeplein lagen gegenüber, bis beide Familien untertauchen mussten.
Sie und ihre Mutter wurden vom Vater und Bruder getrennt, kamen in verschiedenen Verstecken unter. So war es sicherer. Einige Male noch konnten sie sich sehen, heimliche Treffen immer in der Angst vor Entdeckung. Ihr Bruder, den sie so geliebt hatte, den sie so sehr bewunderte, zeigte ihr die Bilder, die er in seinem Versteck gemalt hatte, las seine Gedichte vor.
Es war der 11. Mai 1944, als die Deutschen an die Tür ihres Verstecks hämmerten. Jemand hatte die gesamte Familie verraten. Auf dem Tisch stand die Geburtstagstorte. Eva Schloss wurde an diesem Tag 15 Jahre alt. Im Viehwaggon, der sie nach Auschwitz brachte, waren sie alle vier zum letzten Mal zusam­men. Ihr Bruder erzählte ihr von den Fußbodendielen, unter denen er seine Bilder versteckt hatte. Dann kam Auschwitz. Der Brief vom Roten Kreuz er­reichte sie nach ihrer Rückkehr nach Amsterdam. Vater und Bruder waren während des Todesmarsches gestorben.
Sie war, erinnert sie sich, in den ersten Jahren nach Auschwitz noch unglücklicher als in der Zeit im Lager. Dort war jeder überlebte Tag eine Eroberung. Sie war 15 und wollte leben. Ich hatte, sagt sie, eine glückliche Kindheit in Wien. Die Erinnerung daran, die Hoffnung auf die Fortsetzung dieses Glücks hat sie am Leben gehalten. Danach hat sie begriffen, dass dieses Glück für immer verloren ist. Wozu habe ich so gekämpft? Das Lager hatte ihr jeden Glauben genommen. An die Menschen, die anderen Menschen so etwas antun konnten. Und an den Gott, der das nicht verhindert hat. Ich war, sagt sie, ein zutiefst unglücklicher Mensch.
Gerettet hat sie damals auch Otto Frank. In ihrer Trauer fan­den er und ihre Mutter zusammen. Er hatte, sagt sie, alles verloren, und trotzdem war er ohne Hass. Er bekam viele Briefe. Stundenlang hat er zusammen mit ihrer Mutter gesessen und geantwortet. Auch Briefe aus Deutschland waren dabei, auch von Kindern der Täter. Wie soll ich umgehen damit, hatten sie gefragt. Ausgerechnet ihn, den Vater von Anne Frank. Er hat auch ihnen geantwortet.
Als ihr Otto Frank das Tagebuch seiner Tochter zum Lesen gab, hatte sie darin vor allem ihn, den Vater wiedererkannt. Wie er stark er seine Tochter geprägt haben muss in jener Zeit im Versteck. Sie kannte ja nur die elfjährige Anne vom Merwedeplain. Die Verspielte, etwas Eitle, die gern in Modemagazinen blätterte und sich schon für Jungen interessierte. Wir waren, sagt sie, sehr verschieden.

Anne Frank wurde zum Teil ihres Schicksals

Anne Frank. Millionen kennen ihren Namen. Für die Welt war sie ein Symbol. Für sie wurde sie die Stiefschwester. Ein Teil ihrer eigenen Geschichte. Wie geht man um damit? Es war kompliziert, sagt sie. Otto Frank hat viel von Anne Frank gesprochen. Oft sagte er: Anne hätte dies oder jenes getan. Sie war immer präsent, so gut, so richtig. So unerreichbar. Erinnerungen können manchmal übermächtig sein. Und sie konnte lange die neue Liebe ihrer Mutter nicht verstehen. Oder wollte es nicht. Es war gut, die Mutter glücklich zu sehen. Aber der Mann, der war nicht ihr geliebter Vater. Und sie war nicht Anne. So muss es Otto Frank doch auch empfunden haben. Sie hat lange gebraucht, um mit diesem Gefühlschaos fertig zu werden. Und sie hatte ihre eigenen Erinnerungen, ihren eigenen Schmerz.
Als sie verstand, wie stark Otto Frank das Vermächtnis des Tagebuchs seiner Tochter am Leben hielt, beschloss sie die Bilder des Bruders zu suchen. Sie waren tatsächlich noch dort. Heute hängen sie in einer Ausstellung. Heinz, sagt sie, hatte so große Furcht zu sterben, verges­sen zu werden.
Ganz am Anfang nach dem Krieg, erzählt sie, da hätte sie gern geredet, aber die Leute wollten es nicht hören. Die Scham hielt sie wohl zurück, denkt sie heute. Anne Franks Tagebuch ermöglichte ihnen einen Zugang zum Thema Holocaust, der gewissermaßen mit einem Weichzeichner überlegt war. So erklärt sie sich die den Erfolg des Tagebuchs in den frühen Jahren nach dem Krieg.
Und später, in den 70-ern, als die Menschen begannen zu fragen, wollte sie nicht mehr reden.
Sie wollte vergessen. Sie hatte es versucht, wollte alle Bilder verbannen in die hinterste Seelenkammer. Es gelang ihr nicht. Niemandem, sagt sie, gelingt das. Die Bilder von Auschwitz kehrten in den Nächten zurück. Wie sie die Latrinen putzen muss. Wie sie stundenlang zur Strafe auf dem Boden kniet mit einem Holzschemel in den ausgestreckten Armen. Die Augen ihrer Mutter, als man sie bei einer der Selektionen wegführte. Erst viel später sollte sie erfahren, dass ihre Mutter in der Krankenbaracke überlebt hatte.
Und der Hunger. Der sich ein­genistet hatte in den Därmen, in der Seele, in den Gedanken. All unsere Gespräche, erinnert sie sich, drehten sich um Essen. Was wir gegessen haben zu Hause, was wir essen würden nach dem Lager. Manchmal überließen ihnen Kapos das Kartoffelwasser. Früher, hatten sie sich dann erzählt, haben wir das weggekippt. Unvorstellbar. Wir waren, sagt sie, besessen vom Gedanken an Essen.
Von all dem erzählte sie nicht. Auch nicht ihrem Mann, auch nicht den drei Töchtern. Weil sie nicht gefragt haben? Noch so ein kompliziertes Kapitel. Wer will hören, wie ein geliebter Mensch gelitten hat? Und sie wollte ihnen diese Last nicht aufbürden. Warum hast du nichts erzählt, hatte eine der Töchter sie einmal gefragt. Du hättest fragen können, hatte sie geantwortet. Das konnte ich nicht, hatte sie entgegnet.
Also schwieg sie, 40 Jahre.
Bis zu jener Veranstaltung über Anne Frank, in der sie im Publikum saß. Jemand rief sie nach vorn, und plötzlich brachen die zurückgehaltenen Worte aus ihr heraus. Ungeordnet, hastig, wie eine Flut. Es war, erinnert sie sich, eine Erlösung.
Sie ist viel unterwegs seitdem, hat Bücher geschrieben, macht Lesungen, arbeitet in der Anne­-Frank-Stiftung in London.
Nur mit den Töchtern redet sie bis heute nicht darüber. Es geht nicht, sagt sie. Was ihr ange­tan wurde, hat auch die folgende Generation verwundet. Das vertut sich nicht mit den Jahren. Das hört nicht auf.