Anne Frank, mit der Sie als Kind in Amsterdam gespielt haben, kennt heute fast jeder. Letztlich sprechen Sie aber für viele, deren Schicksale unbekannt geblieben sind.
Es gäbe noch so viele Schicksale zu erzählen.
Wie wichtig ist für Sie das Erzählen? Erinnern heißt doch auch, die schmerzlichen Erlebnisse immer wieder neu zu durchleiden.
Anfangs war das für mich sehr, sehr schwierig. Aber jetzt mache ich es ja schon über 20 Jahre. Ich werde im Weimarer Schloss eine Stelle aus dem Buch vorlesen, wo es um meinen Bruder geht. Ich habe ein bisschen geübt, denn auf Deutsch lesen ist mir nicht so geläufig. Dabei musste ich immer wieder weinen. Das eigene Leid spüre ich nicht mehr so. Aber der Verlust meines Vaters und meines Bruders... -,Schauen Sie, das sind Fotografien von den Bildern, die mein Bruder gemalt hat. So ein unglaublich talentierter junger Mann! Er hat gemalt, er hat Musik gemacht und er hat wundervolle Gedichte geschrieben. Er hat sechs Sprachen gelernt während der Zeit, in der er untergetaucht war.
Beide, Ihr Bruder und Ihr Vater, haben den Todesmarsch von Auschwitz nach Mauthausen überlebt und sind kurz vor der Befreiung des 'Lagers gestorben.
Das war das Ärgste, dass sie es fast überlebt hätten.
Denken Sie noch oft an Ihren Bruder?
Ich brauche mir nur seine Bilder anzuschauen, dann sehe ich ihn vor mir. Diese Fantasie, die er gehabt hat! Er hat auch Angst vorm Sterben gehabt. Ich denke oft, wie ist er umgekommen? Hat er gelitten im letzten Moment, wo er wusste, dass er sterben wird? Das spukt mir immer im Kopf herum.
Wie ist Ihre Mutter mit dem Familienschicksal umgegangen?
Meine Mutter hat nie wieder einen Fuß auf österreichischen Boden gesetzt. Dort hatte man uns rausgeworfen. Falls mein Vater und mein Bruder überlebt hätten, wären wir vielleicht wieder zurückgegangen. Wissen Sie, nach der Befreiung vom Faschismus haben die Leute gesagt: Nie wieder Auschwitz! Und ich dachte, sie hätten aus der Geschichte gelernt. Aber haben sie wirklich gelernt?
Sie wollen sagen, dass es 70 Jahre nach Kriegsende nötiger denn je ist, über Auschwitz und die Verbrechen der Nationalsozialisten zu sprechen?
Nicht nur über Auschwitz. Auch über Krieg, Flucht und Emigration. Es ist doch schon wieder so, dass man keine Flüchtlinge aufnehmen will. Denn man hat ja keinen Platz. Und es ist so schwierig. Und es sind zu viele ... Wenn die Juden in den 30er Jahren von anderen Ländern, die nicht unter deutscher Besatzung standen, aufgenommen worden wären, hätte es den Holocaust womöglich nicht gegeben. Deswegen war ich nach dem Krieg auch so verbittert - nicht nur gegen Deutschland, sondern gegenüber der ganzen Welt.
Hat es deshalb so lange gedauert, bis Sie Ihre Geschichte erzählen konnten?
Anfangs wollte ich ja darüber sprechen, aber die Welt wollte es nicht wissen. Man hat gesagt, es muss weitergehen, und das, was war, müssen wir vergessen.
Aber Sie haben sicher auch selbst Zeit gebraucht, um Ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
Natürlich. Als mich die Leute später, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, gefragt haben: Wo warst du während des Krieges? Was hast du erlebt? - da war ich nicht mehr bereit, darüber zu spreche
Viele und vor allem junge Leute interessieren sich aber heute für das Schicksal der Juden. Vor dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam bilden sich jeden Tag Schlangen.
Das ist unglaublich. Die haben jetzt über eine Million Besucher. Wenn ich diese Zahl höre, muss ich an die anderthalb Millionen jüdischen Kinder denken, die von den Nazis ermordet worden sind. Anderthalb Millionen ' kann man sich nicht vorstellen. Aber wenn man die Geschichte eines Kindes hört, das sich zudem sprachlich gut ausdrücken konnte ... Aber ich sage auch immer: Anne Franks Tagebuch ist kein Holocaust-Buch, weil darüber letztlich nur überlebende schreiben konnten.
Wie reagieren die 15-jährigen Schüler, wenn Sie ihnen erzählen, dass Sie mit fünfzehn in ein Vernichtungslager verschleppt wurden?
Manche fühlen sich schuldig . Dann sage ich, ihr könnt nichts dafür, ihr wart doch damals noch nicht geboren. Aber sie haben ein Schuldgefühl für die Großeltern oder Urgroßeltern und wollen etwas wiedergutmachen. Aber solche Gefühle, das sage ich ganz offen, sind in diesem Falle nicht gut. Wenn man sich schuldig fühlt, entstehen auch unterschwellig neue Feindgefühle gegen die Juden. Nein, das ist jetzt 70, 75 Jahre her, da muss sich niemand mehr schuldig fühlen.
Reagieren die Schüler auf Ihre Lesung in Deutschland anders als in den USA oder in Israel?
In Amerika sind die Menschen emotional offener. Aber überall sind sie sehr interessiert. Ich erlebe in Deutschland eine große Offenheit gegenüber den Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien. Ich bewundere Angela Merkel, weil sie dazu steht, auch wenn Teile der deutschen Bevölkerung nicht damit einverstanden sind. Sie verfolgt das Prinzip: Man muss Menschen helfen, wenn sie in Not sind. Das müsste die ganze Welt verstehen, leider tut diese das nicht.
Was könnte sie tun?
Ich war gerade in Amerika und habe den Menschen dort gesagt, dass das , Flüchtlingsproblem kein europäisches Problem ist. Es ist ein globales Problem, an dem die Amerikaner durch ihre Kriege in Afghanistan·und dem Irak eine große Mitschuld tragen. Doch die amerikanische Regierung will nichts davon wissen. Sie könnte Schiffe und Flugzeuge schicken, um Flüchtlinge aufzunehmen. Doch sie nimmt keinen einzigen auf.
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