Ulrich Völkel: Das ferne Grab
23. April 2015 – aus.gelesen
Der Eckhaus-Verlag aus Weimar ist ein noch junges Unternehmen, eine Verlagsgründung in den Zeiten, in denen das e-Book den Markt durcheinanderwirbelt – eine mutige Entscheidung und der Ehrgeiz, ein angesehener deutscher Verlag zu werden: ein löbliches Vorhaben. Thema des Verlages ist das Wahren der Erinnerung, denn geht die Erinnerung verloren, kann Zukunft nicht gestaltet werden.
Diesem Motto gehorcht auch das Buch von Ulrich Völkel, Cheflektor des Verlages, mit dem Titel Das ferne Grab. Der Inhalt des Buches ist weitgehend (auto)biographisch, die Ausgestaltung eine Fiktion. Völkel nennt seinen Text “Novelle”, was sich mir nicht erschließt, denn die “unerhörte Begebenheit”, das “seltsame, unerhörte Ereignis” , welches einer Novelle zugrunde liegen sollte – sie ist nicht erkennbar. Denn leider geht es um ein Schicksal, daß viele, Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Frauen teilen bzw. geteilt haben: ihre Männer sind auf den Schlachtfeldern des 2. Weltkrieges geblieben, ohne daß sie Abschied nehmen konnten und/oder daß sie – insbesondere bei den toten Soldaten in Russland/der Sowjetunion – das Grab besuchen konnten.
Völkel, Jahrgang 1940, erzählt in seinem Buch seine Familiengeschichte, besonders die Geschichte seiner Mutter, die er im Buch als Elisabeth (“Li”) Thal auftreten läßt. Es ist keine aussergewöhnliche Geschichte für die damaligen Zeiten, es ist die Zeit nach dem 1. Weltkrieg, die beiden Verliebten waren arm wie die Kirchenmäuse, als sie 1938 heirateten. Ihr Vater war nicht begeistert, er hätte lieber einen Mann mit einem handfesten Beruf an der Seite seiner Tochter gesehen als einen arbeitslosen kaufmännischen Angestellten. Aber die Mutter stand auf der Seite ihrer Tochter…. daß diese schon ihr erstes Kind unter dem Herzen trug, verschwieg Li allerdings wohlweislich….
Arm, arbeitslos, die Versicherung Lis aufgelöst, um halbwegs einen Hausstand gründen zu können – der Mann Robert verpflichtete sich bei der Wehrmacht auf 12 Jahre. Die wollte er auf einer Arschbacke abreißen und von dem Entlassungsgeld dann eine Farm in Afrika kaufen. Wärme, unendliche Weite.. das lockte ihn und Li wäre mitgegangen. Probleme mit den Losungen und Plänen der Nationalsozialisten hatte er nicht, natürlich saugten die Plutokraten und Juden Deutschland aus…. auch darin unterschied sich Robert kaum von vielen, den meisten anderen Deutschen.
Doch es kam anders als geplant… Robert machte den Feldzug nach Russland mit (.. ein längerer Aufenthalt in Russland… so steht es in einem seiner Briefe an Li), unendliche Weiten, unendlicher Schmutz, ein unangenehmer Gegner. Trotzdem wich das Überlegenheitsgefühl Roberts nicht, der Optimismus, den Feind bald besiegt zu haben: Seit den frühen Morgenstunden greifen wir an, um den Bolschewiken den Rest zu geben. Und daß es diesmal nach meiner Meinung nicht allzu lange gehen kann, davon bin ich überzeugt, weil deren Kampfmoral und vor allem das Menschenmaterial sehr mies ist. …. schreibt er im Mai 1942 nach Hause.
Auch zu Hause wird es immer schwieriger für Li. Zwei Kinder hat sie, das dritte ist unterwegs. Die Nahrungsmittel werden knapp, im Winter fehlt Heizmaterial, Medikamente gegen die Erkrankung der Kinder auch. Sorgen, Angst, Enttäuschungen, und immer wieder Hoffnungen, daß der Papa, der Mann Urlaub bekommt und wieder einmal, endlich, nach Hause kann….
Im September 1942 bekommt Li das letzte Lebenszeichen von Robert, der Brief vom 20. trifft eine Woche vor der Geburt ihres dritten Sohnes ein. Erst im Juni 1943 bekommt sie die offizielle Nachricht vom Wehrkreiskommando, daß Robert am 7. Dezember 1942 durch einen Kopfschuss in der Nähe von Stalingragd gefallen ist.
Elisabeth Thal und ihre drei Kinder haben den Krieg überlebt, Li hat jedoch viele der Verwandten verloren. Nach dem Krieg lebte sie mit ihren Kindern in der damaligen DDR. Die “Wende” 1989 in Deutschland und die “Perestoika” in der ehemaligen UdSSR ermöglichten etwas, woran sie vielleicht nicht mehr geglaubt hatte: sie hatte jetzt die Möglichkeit, Abschied zu nehmen, das Grab ihres Mannes zu besuchen, eine Blume dort niederzulegen, den tief in ihr – auch nach Jahrzehnten noch – nagenden Zweifel, ob er wirklich tot sei, auszuräumen.
Denn dieser Zweifel war da, die widersinnige Hoffnung, daß Robert vielleicht doch noch leben würde, in Russland, ohne Gedächtnis möglicherweise wo er eigentlich herkäme… Innere Ruhe würde sie erst finden, wenn sie durch das Grab die Gewissheit seines Todes hätte, wenn sie buchstäblich “begreifen” könnte, daß er tot ist.
In der Wirklichkeit ist die hochbetagte Elisabeth Thal nicht mehr in der Lage, eine Reise zum großen Soldatenfriedhof bei Wolgograd. Dies übernimmt ihr Sohn Ulrich: Sie hatte die Kraft nicht mehr, eine Reise nach Wolgograd zu unternehmen. Ich habe diese Reise für sie in meinem Gedanken gemacht. …. der ihr aber von ihrer fiktiven, als Novelle festgehaltenen Reise, nichts erzählt, um sie nicht unnötig aufzuregen.
Völkel läßt die “fiktive” Li mit einer Gruppe von Kriegerwitwen nach Wolgograd fliegen. Auf dieser Reise werden bei Li noch einmal die Erinnerung wach an diese Zeiten, an ihre Hochzeit, die Kinder, die Kriegsjahre, auch die Jahre in der DDR… ihren größten Schatz hatte Li retten können, auch als alles in Schutt und Asche gebombt worden war: Briefe von Robert und auch von ihr, die als unzustellbar zurückgekommen waren. Diese Briefe hat Völkel in seinen Text eingefügt, sie sind neben den Erinnerung ein wesentlicher, vielleicht sogar der aussagekräftigere Teil des Buches.
Völkel beschreibt, wie schwierig es für ihn war, diese Briefe des zu DDR-Zeiten als “faschistischer Soldat” bezeichneten Robert Völkels zu lesen. Den Briefen ist kein Zweifel zu entnehmen – gab es wirklich keine? -, ungebrochener Optimismus und Glaube an den Sieg herrschen vor, auch wenn es Klagen gibt über die mangelhafte Versorgung und die schlechten hygienischen Verhältnisse. Aber Russland ist ein riesiges Land, der Vormarsch war schnell, man kam in der Etappe nicht nach. Ja, Kameraden starben, aber das ist so im Krieg und man stellt die Toten dem Russen ordentlich in Rechnung. Sehnsucht nach der Frau, den Kindern, nach gutem Essen, Hoffnungen.. Anweisungen und Bitten um Pakete… alles ist Willkommen. Vielleicht sind diese Bitten ein Zeichen dafür, daß an der Front doch nicht alles kritiklos gesehen wurde…
Von ihrer Seite aus immer wieder die Hoffnung, ihren Mann endlich wieder zu sehen, die Enttäuschen, zu Weihnachten allein zu bleiben wie auch zu Silvester. Schilderungen über die Probleme in der Heimat: Knappheit an Nahrung, Medikamenten, Spielzeug, Heizmaterial…. und gleich wieder die Beschwichtigung: man will dem geliebten Mann an der Front ja nicht die Seele schwer machen….. die Kinder, die ohne den Vater aufwuchsen, sich nach ihm sehnten.. auch sie immer wieder enttäuscht.
In Russland dann die direkte Auseinandersetzung mit dem fremden Land, dem einst unverbrüchliche Freundschaft geschworen, mit dem Friedhof für die deutschen Gefallenen, der von den Russen keineswegs mit Freuden begrüßt wurde, dann aber dazu führte, daß auch für russische Gefallene ein Friedhof angelegt wurde – in der Schilderung dieser Vorgänge durch eine junge Russin werden auch die unterschiedlichen Mentalitäten und der Umgang mit der Vergangenheit deutlich…
So ist Völkes schmales Büchlein, das durch einen Gedichtzyklus schöne kindheit gewesen ergänzt wird, ein sehr privates Buch, eine späte Aufarbeitung auch des Verlustes des Vaters, der Zerstörung der Familie, es ist ein Dank auch an die Mutter dafür, wie sie ihr Schicksal getragen hat. Die Mutter, die ein Leben lang die Trauer nicht wirklich in ihr Leben integrieren konnte, weil die Ungewissheit an ihr nagte, nicht nur ob Robert wirklich tot sei, sondern auch die, ob die Aussage, er habe einen schnellen, schmerzlosen Tod gehabt, stimmt…. es bleibt die Hoffnung, daß sie, die taggenau 70 Jahre nach ihrem Mann, kurz vor ihrem 99. Geburtstag gestorben, ist, in Frieden gegangen ist. Insofern ist es auch ein Buch über die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen.
Das Buch ist mit Familenfotos illustriert, die in den Text eingestreuten Briefe strukturieren die Erinnerungen der Mutter zu jeweils weitgehend abgeschlossenen Abschnitten. Ich denke, für jede, der nicht nur an der großen Weltpolitik interessiert ist, sondern auch am Schicksal einzelner, das unter Umständen genommen werden kann als stellvertretend für viele Schicksale, ist Das ferne Grab in seiner unaufgeregten, nachdenklichen Art eine lohnende Lektüre.
Posted by flattersatz
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